Erinnerungen an den Alltag

Ein analoger Filmstreifen mit einer Blume darauf

Böse Zungen behaupten seit jeher, das Kino sei purer Eskapismus. Irgendwo muss ich ihnen Recht geben, denn ich verliere mich gerne in Held*innengeschichten und fremden Welten, die fantastisch, bunt und aufregend sind. Mit den Beschränkungen des öffentlichen Lebens, scheint plötzlich  die fremdeste Welt unsere eigene zu sein. Wir schauen Filme nicht mehr als Alltagsflucht, sondern viel mehr als Suche nach der alten Normalität. Die Bilder, die sonst eigentlich unser alltägliches Leben spiegeln und oftmals in ihrer Trivialität entblößen, betrachten wir jetzt mit wehmütiger Sehnsucht.

Aber nach was sehnen wir uns, wenn wir vom Alltag sprechen? Das Meiste, dass wir in unserer täglichen Routine erleben, gerät sofort in Vergessenheit. Welche Erinnerungen an den Alltag bleiben also?


Wenn wir uns fragen, was den scheinbar unbedeutenden Alltag so besonders macht und warum wir ihn gerade jetzt so vermissen, hilft es den Essay Film “As I Was Moving Ahead, Occasionally I Saw Brief Glimpses Of Beauty” des litauisch-amerikanischen Regisseurs Jonas Mekas anzusehen.

Und “Ansehen” heißt hier “erleben”, denn mit seinen knapp fünf Stunden Laufzeit, in denen Mekas Alltagsaufnahmen aus 30 Jahren auf Super 8mm Film aneinanderreiht und gelegentlich kommentiert, formuliert er das Gesamtbild einer Erinnerung, das uns in die Momente hineinversetzt, aber uns auch gleichzeitig einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Materialfetzen ziehen lässt. 

Zu Beginn des Films suchen wir nach Anhaltspunkten, nach einer Struktur oder einem erkennbaren Narrativ, doch Mekas schaltet sich schnell als Kommentator ein und bemerkt:

“As you have noticed, nothing much is happening”

Damit nimmt er uns die Aufgabe, in dem Material irgendetwas anderes zu suchen, als den Inhalt der Bilder. Stattdessen zeigt er den Alltag als etwas, dass sich immer wiederholt, dessen täglicher Ablauf fast schon gleichgültig ist. Er zeigt ihn als Fundament, als Wiederholung, in der nichts Ausserordentliches stattfindet und es doch immer die Möglichkeit gibt, dass etwas passieren könnte.

“So let’s continue, and see, maybe something will happen. Maybe. If not, forgive me, dear viewers. If nothing happens, let’s continue anyway. That’s how life is. It’s always more of the same.”

Dabei muss gar nichts passieren, damit wir uns an den Alltag erinnern. Denn das Triviale, das Alltägliche formt uns langsam und mit Beständigkeit. Wenn wir an den Alltag denken, denken wir nie an einen Moment, sondern an einen  Gefühls-Zustand, der ein Teil von uns geworden ist. Alltagserinnerungen sind emotional, wir verbinden sie mit unseren Gedanken, Sorgen und Hoffnungen zu dieser Zeit. 

Wenn wir den Film also “erleben”, sehen wir nicht nur zufällige Bilder, wir sehen ein sentimentales Gesamtbild gefüllt mit undenkbar vielen Gefühlen, Sorgen, Hoffnungen und Ambitionen. Mekas ist dabei Kommentator, aber vor allem unser persönlicher Bezugspunkt zum Bildmaterial. Es ist als Beobachteten wir einen Menschen, der erneut sein Leben durchlebt. Und jedes Bild das nun auf unserem Bildschirm flimmert, trägt auch eine Entscheidung in sich. Die Entscheidung, genau diesen Moment zu filmen und festzuhalten. Es ist die Entscheidung, sich eine Erinnerung zu verewigen, sie so zu dokumentieren, wie man sie genau im erlebten Moment wahrnimmt. Doch was bringt Mekas dazu seine Kamera auf etwas zu richten und zu sagen, diesen Moment möchte ich festhalten? 

An dieser Stelle lohnt es sich Hirokazu Kore-Edas Film “After Life” zu betrachten. Der teils dokumentarische Spielfilm dreht sich um eine Zwischenwelt, in der Menschen nach ihrem Tod ankommen. Dort verweilen sie sieben Tage, bevor sie weiter ins Unbekannte gehen. In dieser Zeit müssen sie einen Moment aus ihrem Leben wählen, den sie in Erinnerung behalten möchten. Dieser Moment wird von einer Filmcrew für sie inszeniert und gefilmt. 

Der Film ist zum Großteil in Interview Form gefilmt. Die Menschen erzählen von Momenten, die sie geprägt haben, überlegen was sie mitnehmen wollen. Sie sprechen zwar mit den Beratern, die später auch die Filme drehen, aber die zentrierte Kameraperspektive stellt uns auf Augenhöhe mit ihnen. Wir fühlen uns direkt angesprochen und werden selbst dazu aufgefordert uns zu überlegen, welchen Moment wir wählen würden. 

Nach Ablauf der Zeit entscheiden sich die meisten für etwas scheinbar Triviales. Dabei verbindet alle Erinnerungen, eine starke subjektive Wahrnehmung,  die emotionales und faktisches Empfinden vermischt. Ein Moment ist eben nicht nur das wahrhaftig Erlebte, sondern auch die individuelle Wahrnehmung – die aus dem eigenen Empfinden herauswächst. Einen Moment filmisch festzuhalten, heißt also ihn zu dokumentieren – den faktischen Ablauf von Handlungen in Ort und Zeit festzuhalten. Es bedeutet aber auch ihn zu verfälschen bzw. zu fiktionalisieren – ihn aus der eigenen Wahrnehmung heraus zu betrachten. 

Dabei tritt noch eine größere Ebene ins Spiel. Im Alltag erleben wir etwa nicht die Action Abenteuer furchtloser Held*innen. Wie Hitchcock schon bemerkt: 

“Drama is life with the dull bits cut out.”

Und der Alltag kennt keine dramatische Struktur. Stattdessen ist er der Begegnungsort unserer täglichen Abläufe. Im Alltag finden wir universelle menschliche Momente, die uns mit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen verbinden. Der Alltag ist die geteilte menschliche Erfahrung.

Kore-Eda zeigt die Momente, die in Erinnerung bleiben, die wir hervorkramen, die uns menschlich machen. Die uns als Person ausmachen, weil sie unsere Erinnerungen sind, die nur wir so erlebt haben, aber die uns auch zu Menschen machen, weil sie universell sind, dadurch das sie erlebt worden sind und eben alltäglich erscheinen. Wir wollen diese Erinnerungen festhalten, sie filmen, auch wenn wir sie dabei verfälschen, sie aus dem Moment heraustrennen und zu etwas eigenem formen. Sowohl Kore-Eda als auch Mekas sehen die Rolle der Filmemacher*innen als Poet*in – als Verknüpfer des menschlich gelebten Materials. Als Person, die emotionale Zusammenhänge aus universellen Erinnerungen herstellt. 

In “As I Was Moving Ahead”, sind die Aufnahmen nicht chronologisch sortiert. Denn es macht keinen Unterschied für uns. Alle Bilder sind gleichwertig. Sie wurden gelebt und das reicht. Der Film ist der Beweis, dass sie gelebt wurden. Die Bestätigung der Erinnerung. Dabei ist Mekas Aussage, dass in den Bildern nichts passiert absurd. Wir sehen die Geburt seiner Kinder, Hochzeiten, die ersten Schritte, die vielleicht wichtigsten Momente eines ganzen Lebens. Aber Mekas lässt diesen Momenten nicht mehr Bedeutung zukommen, als einem Picknick im Central Park. Denn nur zusammengefügt erzählen sie von der Beständigkeit der Welt. Vielleicht passiert nichts, aber die Welt ist jeden Tag da und wir sind jeden Tag da und kleine Dinge ändern sich und über Jahrzehnte ist der Alltag etwas ganz anderes, aber er hat uns immer begleitet. Und wenn wir ihn jetzt festhalten, uns in ihm wahrnehmen – ihn dokumentieren – dann sehen wir schon in diesem Moment die Erinnerung an das was uns menschlich macht. 

„Life is continuing… […] Though everything eventually passes, except this very, this very very moment, and the next second we are in another moment and something else happens and everything else is gone, is past, is memory, is memory. But some of the memories… no, they never really go away. Nothing really goes away, it’s always here, and sometimes it takes over you, and it’s stronger than any reality around you, around me, now. That is… reality. That is real. That is really real, though it’s not here anymore, as they say, it’s not here anymore. But it’s here for me, it’s here and now.”

 

Ich schreibe diese Worte in meinem kleinen Zimmer, in dem ich seit Kurzem wohne. Langsam schleicht sich eine Routine in mein Leben ein. Da sind die kurzen Momente, in denen jemand auf der Straße in mein Zimmer schaut und wir uns zulächeln, der Spaziergang zum Aldi, der Weg zur Uni. Und natürlich ist da auch die Frustration, die sehr viele dieses Jahr begleitet. Die Frustration, nicht alles machen zu können, was wir sonst tun würden. Das Gefühl jede Struktur zu verlieren, jeden Rhythmus der uns sonst täglich begleitet.
Ich sehne mich nach dem Alltag, dabei ist er in seiner Form kaum greifbar. Er ist nicht vorgegeben, er ist für jeden Menschen unterschiedlich und doch ist er die Grundlage unseres gemeinsamen erlebten Lebens.